Der Beitrag „Gibt es den ‚einen‘ Widerstand Versuche einer theoretischen Annäherung“ von mir erschien in der Zeitschrift des Österreichischen Frauenforums Feministische Theologie „Der Apfel“, Nr. 100 (Ausgabe 4/2011), Seite 4f.
„Widerstand“ ist ein Begriff, der gerade in der aktuellen politischen Diskussion – sei’s nach dem so genannten „Arabischen Frühling“ oder auch im Zuge der „Occupy“-Bewegungen – wieder an Aktualität gewonnen hat, teilweise inflationär, so scheint es. Auch wenn „Widerstand“ auf den ersten Blick immer die Bestrebung sein eigen nennt, sich gegen eine wie auch immer geartete „Obrigkeit“ aufzulehnen, so wird es bei einer eingehenderen Auseinandersetzung mit diesem Begriff zusehends schwieriger, ihn klar zu definieren. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich in der Widerstandsforschung bis heute unzählige Definitionen etabliert haben, die versuchen zu konkretisieren und hinsichtlich der Widerstandsgeschichtsschreibung einen theoretischen Rahmen zu entwickeln, in den sich die unterschiedlichsten Formen von „Widerständen“ einordnen lassen. Zudem drängen sich in der Beschäftigung mit der Materie die Fragen auf: Sind alle Formen des Widerstands gleich zu bewerten? Bedeutet jede Form der Auflehnung gegen ein wie auch immer geformtes System automatisch Widerstand oder führt genau diese Haltung zu einer Banalisierung und Inflation des Widerstandsbegriffs und dessen, wofür er steht? Dieser Artikel soll nicht den Anspruch erheben, eine vollständige und allgemeingültige Definition zu zementieren, sondern gilt vielmehr als Versuch, aus geschichtswissenschaftlicher Sicht Schlaglichter auf unterschiedliche Formen des Widerstands zu richten und dabei gleichzeitig den Leserinnen und Lesern neue Denkanstöße zu liefern.
Definitionsbeispiele
Die moderne Widerstandsforschung ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts, angeregt durch die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit bzw. jenen Gruppen und Einzelpersonen, die sich gegen das NS-Regime stellten. Eine ernsthafte wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus entwickelte sich bereits in den fünfziger Jahren. Seitdem versucht man immer wieder zu definieren, was denn nun tatsächlich unter dem Begriff „Widerstand“ verstanden werden darf.[1]
An dieser Stelle sollen zwei Widerstandskonzepte herausgegriffen werden, die nicht nur auf den Widerstand gegen das NS-Regime anwendbar sind, sondern darüber hinaus Gültigkeit besitzen.
Die erste Definition, die hier angeführt werden soll, stammt von Peter Hüttenberger aus dem Jahr 1987:
Widerstand soll demnach jede Form der Auflehnung im Rahmen asymmetrischer Herrschaftsbeziehungen gegen eine zumindest tendenzielle Gesamtherrschaft heißen, wobei die Differenzierung der Formen des Widerstandes sich aus den verschiedenartigsten Möglichkeiten der asymmetrischen Beziehungen ergibt, die ihrerseits von der sozialen Struktur der implizierten Einheiten abhängt.[2]
Wendet man diese Beschreibung auf die Widerstände gegen das NS-Regime an, so ist klar, dass in diesem Fall sowohl asymmetrische Herrschaftsbeziehungen, in diesem Fall eine diktatorische Terrorherrschaft, als auch die Voraussetzung einer tendenziellen Gesamtherrschaft gegeben sind. Diese asymmetrischen Beziehungen – Unterdrückung und wirksame Kontrolle durch das Regime vs. eine Bevölkerung ohne Möglichkeit, sich diesem Zugriff durch das Regime zu entziehen – können in weiterer Folge zu den unterschiedlichsten Formen des Widerstands führen. Sowohl die Asymmetrie als auch die Ausformung und der „Erfolg“ des Widerstands sind von sozialen Strukturen abhängig.
Hüttenberger nennt hier als Phänomen der Auflehnung den Widerstand der deutschen Amtskirchen gegen Maßnahmen von Partei und Staat. Dies wäre ein Beispiel für eine Form des institutionellen Widerstands, der abebbte, sobald die Maßnahmen gelockert wurden. Oft verschob sich dieser institutionelle Widerstand – die katholische Kirche ist hierfür ein passendes Beispiel – in einen kleineren, nicht oder nur marginal organisierten privaten bzw. semi-privaten Bereich (in eine andere soziale Struktur) und verschwand nicht völlig. Hüttenbergers Definition eignet sich besonders, um aktuelle Phänomene wie die Aufstände in Libyen, Ägypten, Algerien und anderen Ländern des arabischen Raums zu beschreiben und vergleichbare Ablaufmuster herauszuarbeiten, ohne von vornherein eine Wertung zu treffen.
Eine zusätzliche Dimension eröffnet das von Gerhard Botz entwickelte Widerstandskonzept, das ebenfalls im Hinblick auf die Kategorisierung der unterschiedlichen Widerstandsformen im Nationalsozialismus konzipiert wurde. Botz nennt drei Makroebenen: politischer Widerstand, sozialer Protest und abweichendes Verhalten. Allen genannten Abstufungen ist ein regime-nonkonformes Verhalten eigen. Als Mindestmaß dieses nonkonformen Verhaltens gelten das Sich-Entziehen von totalitären Herrschaftsansprüchen und die Verweigerung der Annahme der Wertvorstellungen des Regimes. Zu beachten ist, dass allerdings dieses Minimum an nonkonformem Verhalten auch, wenn es nicht auf eine Veränderung der politischen Machtverteilung abzielt, vom Regime als systemstörend aufgefasst und in weiterer Folge durchaus verfolgt wird. Beim Begriff der Konformität muss auf die herrschende „Unschärfe“ bei der Verwendung hingewiesen werden. So kann ein und dieselbe Person oder Gruppe hinsichtlich verschiedener gesellschaftlicher Bereiche und Wechsel politischer Zielsetzungen des Regimes zu einem bestimmten Zeitpunkt Konformität, dann aber auch wieder Nonkonformität in unterschiedlicher Stärke aufweisen. Entscheidend ist vor allem, dass weder Konformität noch Nonkonformität in absoluter Reinform in allen gesellschaftspolitischen sowie sozialen Bereichen auftreten.[3] Gerade dieser Konformitätsbegriff macht es schwierig, einen umfassenden „Widerstands-Oberbegriff“ zu begründen.
Politischer Widerstand: Der politische Widerstand impliziert das Streben nach einem Sturz und/oder einer maßgeblichen Veränderung des Regimes. Fehlt eine legale Möglichkeit, oppositionell einzugreifen oder Alternativen aufzuzeigen, so erscheinen Organisiertheit und „Illegalität“ des Widerstands in logischer Folge als einzige Instrumente politischer Veränderung.[4]
Sozialer Protest: Der soziale Protest manifestiert sich in spontanen, meist diffusen oder lediglich symbolischen Äußerungen herrschender Unzufriedenheit mit dem gesamten System der (nationalsozialistischen) Herrschaft oder mit einzelnen Teilbereichen.[5]
Abweichendes Verhalten: „Abweichendes Verhalten meint Sozialverhalten, das mit den allgemein als gültig angesehenen oder postulierten Normen und Wertvorstellungen nicht übereinstimmt, gegen sie jedoch nicht in herrschaftsverändernder Absicht, sondern in Verfolgung persönlicher Lebensführung verstößt und den meisten Regimeanforderungen gegenüber eher indifferent ist.“[6]
Dies heißt jedoch keineswegs, dass ein totalitäres Regime wie der Nationalsozialismus abweichendes Verhalten toleriert. Eine Diktatur dieser Ausformung fasst nicht nur jene Tätigkeiten des politischen Widerstandes im engeren Sinne als systemwidrig auf, sondern jedwede Art des Protests sowie des zivilen Ungehorsams.
Begriffe wie der soziale Protest und das abweichende Verhalten lassen sich ausweiten und dienen dazu, auch Protestformen abseits totalitärer Regierungs- und Gesellschaftsformen zu beschreiben.
Kritik
Beide Definitionen lassen den Geschlechteraspekt völlig außen vor. Ein Grund dafür mag sein, dass die Erklärungsmuster bewusst so allgemein gehalten sind, was ermöglicht, sie für genderwissenschaftliche Fragestellungen (Geschlechterverhältnisse und -rollen innerhalb konkreter Widerstandsgruppen, Eigenheiten eines spezifisch „weiblichen“ bzw. „männlichen“ Widerstands und deren Zuschreibungen, Sichtbarmachung geschlechtsspezifischer Widerstandsformen, gender identity in der Widerstandsgeschichtsschreibung) zu adaptieren. Ein anderer Grund ist vermutlich der zeitliche Kontext, in dem beide Definitionen entstanden sind – eine Phase, in der sich die Gender Studies im deutschsprachigen Raum erst auszudifferenzieren begannen. Während es zu den konkreten Milieus, in denen sich widerständige Haltungen von Gruppen oder Einzelpersonen in der NS-Zeit etablierten, mittlerweile als gut erforscht gelten, beginnt sich vor allem in der NS-Erinnerungsarbeit erst langsam eine geschlechterperspektivische Geschichtsschreibung zu entwickeln – und eine Sicht auf Frauen als aktiv Handelnde in vergangenen wie gegenwärtigen Widerständen.