Nachdem ich mir den Dokumentarfilm „Virgin Tales“ angesehen habe, kreisen meine Gedanken ständig um das Weltbild, das darin dargestellt wird. Und zwar ein durchaus bedenkliches. Und das auf mehreren Ebenen. In “Virgin Tales” geht es um die Familie Wilson, die die sogenannten “Purity Balls” begründeten. Eine Familie von Evangelikalen, die neben dem “Home Schooling” auch die “Jungfräulichkeit bis zur Ehe” leben und propagieren. So viel dazu. Doch warum störe ich mich so sehr an dieser (mir fällt kein besserer Ausdruck ein) “Ideologie”? Aus vielerlei Gründen:
- Einerseits vermitteln die “Purity Balls” ein meiner Ansicht nach geradezu ungesundes Verhältnis zwischen Vater und Tochter. Der Vater wird als “Wächter über die Jungfräulichkeit” angesehen. An ihm sollen sich die Töchter bei der Wahl ihres Ehemanns orientieren. Ein zentraler Bestandteil der Bälle ist eine Zeremonie, in der die Väter ihren Töchtern einen Ring anstecken und ihnen ein Gelöbnis schwören. Die Mädchen, die an diesen Bällen teilnehmen, scheinen überwiegend nicht einmal zu wissen, was mit “Purity” überhaupt gemeint ist. Viele von ihnen sind gerade einmal 11 oder 12 Jahre alt.
- Die Wilsons behaupten, sie hätten ihren Töchtern die Wahl gelassen, ob sie sich für oder gegen das “Warten” entscheiden. Tatsächlich ist doch klar, dass Kinder, die in einer fundamentalistisch-evangelikalen Familie aufwachsen, in der nicht über andere Lebensmodelle gesprochen und ein zutiefst konservatives Frauenbild vermittelt wird, gar keine große Wahl haben. In einer Familie, wo Töchter vor dem Vater knien, um den “Segen” zu empfangen, wird man sich kaum ein emanzipatorisches Aufbegehren erwarten können. Dieses “unsere Kinder können frei wählen” untermauert lediglich den “schönen Schein” eines perfekten Familienlebens, das schlicht keine anderen Lebensentwürfe duldet.
- Die Verherrlichung des Krieges: Mehrere Familienmitglieder sind beim Militär. Das kämpferische Christentum wird verbunden mit einer zutiefst nationalistischen Haltung. Eine Verbindung, die – wir denken an George W. Bush – nicht unbedingt die friedlichsten politischen Lösungen präferiert. – In einer weiteren Zeremonie – einer Art “Männlichkeitsritual” – werden männliche Jugendliche in die “Männlichkeit” eingeführt. Samt Ritterschlag mit großem Schwert. Sie bekommen die Aufgabe des Wächters über die Familie übertragen. Natürlich mit dem Ziel, eine Frau zu finden, die ihren Anforderungen entspricht. Auch hier wird mit kriegerischen und gewaltverherrlichenden Gesten und Symbolen nicht gespart. Ein geradezu archaisches Männlichkeitsbild wird als das einzig Wahre angesehen. Umgekehrt gilt Schwäche als etwas zutiefst Unmännliches.
- Die Darstellung der Frauen bewegt sich zwischen Benimmkurs, Gebärmaschine, Demut, Kindererziehung und Fixierung auf die Entscheidung der Männer (egal ob Vater oder Ehemann). An sich im Kontext der evangelikalen Communities auch nichts Neues. Die höhere Bildung erscheint als nicht erstrebenswert. Die Mädchen sitzen zu Hause bei ihren Eltern und warten darauf, bis ein geeigneter Kandidat beim Vater anfragt, ob er sich mit dessen Tochter treffen darf.
- Die Überhöhung der Familie zu etwas, das vor dem “Bösen da draußen” schützt. Missbrauch und Gewalt ist nur etwas, das anderen passiert: Den moralisch Verkommenen, Aufgeklärten, dem Teufel Verfallenen und Ungläubigen. Die Verklärung der Familie geht hier ins geradezu Unerträgliche und deckt zu, was durchaus als emotionale und psychische Gewalt zu bezeichnen ist: Den Töchtern die Wahlfreiheit und die Möglichkeit zu nehmen, selbstbestimmt und frei ihren Weg zu gehen. Frauen haben zu erdulden und nicht zu widersprechen. Sie haben gütig und großherzig, bescheiden und ehrfürchtig zu sein und die Entscheidungen des Mannes zu akzeptieren.
All das sind Dinge, die man sich in einer aufgeklärten Gesellschaft nicht erwartet. Die christlich-fundamentalistische Community hat in den USA jedoch erheblichen politischen Einfluss. In manchen Landstrichen sind evangelikale Gemeinden das einzige Gemeinschaftsangebot, das es gibt. Millionen von Kindern werden aus religiösen Gründen von den Eltern zu Hause unterrichtet und bekommen selten die Möglichkeit, andere Diskurse, Werthaltungen oder Lebensentwürfe kennenzulernen. Eine Community, in der Menschen in massive emotionale Konflikte bis hin zum Selbsthass getrieben werden, wenn sie nicht den zutiefst konservativen Wertehaltungen genügen, wird hier nur selten in Frage gestellt. Eine Community, die sich dem staatlichen Zugriff weitestgehend entzieht und gleichzeitig mit mehr als fragwürdigen Methoden (ein Beispiel wäre etwas das “Jesus Camp” am Teufelssee) Kinder und Jugendliche radikalisiert und beeinflusst, stellt nicht wenige politischen und wirtschaftliche Eliten.
Vor diesen Hintergründen wäre es angebracht, da genauer hinzuschauen. Fundamentalistische christliche Gemeinschaften und Sekten sind zudem in Europa ein Thema. Die “Purity Balls” finden mittlerweile auf der ganzen Welt statt. Die Purity-Bewegung findet auch in Europa zunehmend AnhängerInnen. Schon aufgrund des hohen Werts von Kinderrechten, sexueller Selbstbestimmung und Gleichberechtigung der Geschlechter ist es für mich inakzeptabel, derartige Bewegungen völlig frei gewähren zu lassen.