Ich war vierzehn Jahre alt. Meinen täglichen Weg zur Schule bestritt ich mit dem Bus. In der Früh 22 Kilometer hin, am Nachmittag wieder 22 Kilometer zurück. Die verschiedenen Buschauffeure kannte man dann irgendwann einmal. Manche waren nett. Andere weniger. Und dann gab es da den einen Typen.
An einem Tag begab es sich, dass ich der letzte Fahrgast im Bus war. Ich war müde, starrte während der Fahrt aus dem Fenster. Plötzlich sagte der Busfahrer irgendetwas. Ich hörte nicht hin. Er wiederholte es und sah dabei durch den Rückspiegel zu mir. Erst dann begriff ich, dass er mich meinte. Ich fragte „Was?“, weil ich ihn nicht verstanden hatte. Er wiederholte es. Und ich verstand. „Findest du mich geil?“ fragte er immer wieder. Ich hatte Angst und sagte nichts. Ich stieg eine Haltestelle früher aus. Und als ich nach Hause kam, erzählte ich weinend meiner Mutter davon. Sie rief beim Busunternehmen an. Danach sah ich den Mann nie wieder.
Ich war 21 und Studentin. An einem Abend ging ich gemeinsam mit einer Gruppe von StudiheimkollegInnen in der Altstadt fort. Es war relativ spät. Ein Lokal am Salzburger Rudolfskai. Ein Typ, den ich nicht kannte, wankte völlig betrunken auf mich zu, hielt mir zwanzig Euro unter die Nase und meinte, ob wir nicht schnell gemeinsam auf dem Klo verschwinden könnten. Er würde gerne meinen nackten Hintern sehen. Und er zahle auch dafür. Ich sagte nichts, drehte mich um und ging zu meinen FreundInnen zurück.
Ebenfalls Studienzeit, in einem anderen Lokal. Ich stand an der Bar und unterhielt mich mit einer Freundin. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meinem Hintern. Ich drehte mich um. Ein Mann stand hinter mir und grinste mich dämlich an. Ich ignorierte ihn und dreht mich wieder weg. Er packte zu und kniff mich, dieses Mal fester. Als ich meinte, er solle das lassen, sagte er nur: „Ich war das nicht. So fett wie du bist, greift dich doch ohnehin niemand an.“ Der Abend war gelaufen. Ich ging weinend allein nach Hause.
Vor ziemlich genau einem Jahr saß ich im Zug von Salzburg nach Attnang-Puchheim. Alleine in einem Abteil. Kurz bevor wir losfuhren stiegen zwei offensichtlich betrunkene Männer ein. Sie stellten sich vor meine Abteiltür, obwohl genug Sitzplätze frei gewesen wäre. Sie glotzten mich an, lachten, zeigten auf mich. Die Situation war mir unangenehm und ich beschloss, in einen anderen Waggon zu wechseln. Als ich aus dem Abteil trat und an den beiden vorbeigehen wollte, ließen sie mich nicht. Sie bedrängten mich und versuchten, mich in das Abteil zurückzuschubsen. Als sie hörten, dass der Zugbegleiter den Waggon betrat, ließen sie von mir ab. Das Herzklopfen und die Panik hielten an, bis ich meine Wohnungstür hinter mir geschlossen hatte. Seitdem sitze ich nur noch in Großraumabteilen. Das sind nur wenige Erfahrungen, an die ich mich noch erinnern kann. Ich habe ihnen keine große Bedeutung beigemessen. Ich dachte mir nur, dass anderen doch viel Schlimmeres passiert. Und dass all das doch eigentlich nicht der Rede wert sei. Immer mehr Frauen trauen sich nun, ihre Geschichten zu erzählen. Erniedrigende Erfahrungen von Händen auf Busen, dreckigen Anzüglichkeiten, Erniedrigungen und Bedrängung. Viele haben geschwiegen und schweigen immer noch darüber. Manche, weil sie in Abhängigkeitsverhältnissen zum Täter stehen. Manche, weil sie sich vielleicht auch denken, es sei doch nicht der Rede wert.
Wie „normal“ sind derartige oder noch viel schlimmere Übergriffe, wenn wir glauben: Nicht der Rede wert? Ist eine Grenzüberschreitung nur dann passiert, wenn wir drüber reden oder sie zur Anzeige bringen? Sie nach außen tragen und sagen: #metoo? Sie lückenlos beweisen können? Natürlich nicht. Diese Dinge passieren. In unterschiedlicher Stärke und Härte, in unterschiedlicher Form, versteckt unter vermeintlichen und vorgeschobenen Komplimenten oder Schmeicheleien. Und sie haben alle eines gemeinsam: Die, denen diese Dinge widerfahren sind, wollten das nicht. Manchmal wehrt man sich dagegen. Manchmal versucht man einfach nur, irgendwie aus der Situation rauszukommen und sich damit zu arrangieren. Dass nun im Zuge von Weinstein und Co. immer mehr Frauen und auch Männer von ihren Erlebnissen erzählen, sich trauen es öffentlich zu machen zeigt vor allem eines: Es sind keine Einzelfälle. Es ist ein System von Macht und Grenzüberschreitungen durch Menschen, die glauben, damit ungeschoren davonzukommen. Nicht die, die angegriffen werden, müssen ihr Verhalten und ihre Sichtweise ändern. Ändern müssen sich die, die der Meinung sind, dass das, was sie hier anrichten, ohnehin nicht der Rede wert sei.