Der Weg von der Ausrufung der Republik am 12. November 1918 hin zum von vielen groß bejubelten Anschluss an das Deutsche Reich 1938 dauerte gerade einmal 20 Jahre. Das Vertrauen in die junge Republik Österreich war alles andere als groß, der Deutschnationalismus und der Wunsch nach alter Größe zog sich quer durch alle politischen Lager. Der Abbau der Demokratie begann jedoch nicht erst mit dem 12. März 1938. Und er war definitiv kein „Verdienst“ der Nationalsozialisten.
Das Land war tief gespalten. Nationalkonservative Kreise führten die junge Republik in den Autoritarismus der 30er Jahre. Schon fünf Jahre vor dem „Anschluss“ war das Parlament Geschichte. Unter Führung von katholischem Klerus und der politischen Konservativen, denen die eigenen Machtansprüche und die Idee einer ständischen und damit bestehende Ungleichheiten festigenden Gesellschaft wichtig genug waren, um die parlamentarische Demokratie abzuschaffen fand die Republik, die noch nicht einmal wirklich begonnen hatte, ihr Ende lange vor der Zäsur 1938.
Ein gespaltenes Land
Die NationalsozialistInnen waren ebenso Feind wie die Sozialdemokratie. Die Stilisierung von Dollfuß zum Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, die sich teilweise bis heute hält, ist lediglich Makulatur. NSDAP und Sozialdemokratie wurden gleichsam als Feind betrachtet. Es ging um den Absolutheitsanspruch und nicht um die Wahrung und Festigung der Demokratie. Wir sehen also: Anfang und Ende liegen eng beieinander. Befeuert und begründet durch Unfähigkeit zur Reflexion, Unwissen, Machtgehabe, Zorn, Hass, Ungleichheit, Rachegelüste und „Jetzt erst recht“. Gedenken ist nicht Historie. Es bemisst sich nicht an Jahreszahlen, sondern an Prozessen. Es fragt nicht nach „Wann geschah was?“, sondern nach „Wie kam es dazu?“ und vor allem nach „Wie gehen wir heute damit um?“. Sind Kranzniederlegungen, Ausstellungseröffnungen, bei denen Eliten und ihre Adabeis sich gegenseitig versichern, wie verantwortungsvoll sie mit Geschichte umgehen, Ausstellungskataloge und betroffenheitsgeschwängerte Reden tatsächlich Gedenken? Mitnichten. Versteht mich nicht falsch: All das braucht seinen Platz. Aber es kann einen Diskurs niemals ersetzen. Und zwar nicht einen Diskurs sich gegenseitig einladender und ihrer Wichtigkeit bestärkender AkteurInnen, sondern eine für möglichst viele Menschen in diesem Land greifbare Auseinandersetzung mit der zentralen Frage „Was hat das Ganze mit mir und meinem Leben zu tun?“. Viel. Um nicht zu sagen alles.
Das Leistungsdogma
Wir müssen uns Gedanken drüber machen, was etwa Sanktionen bereits marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen – seien es Arbeitslose, WenigverdienerInnen, MigrantInnen, Armutsbetroffene, Flüchtlinge, BMS-BezieherInnen oder Menschen aus eben nicht elitären und gut gebildeten Kreisen – aus diesen Menschen macht. Ist es tatsächlich zielführend ihnen jeden Tag vor Augen zu halten, dass sie unfähig sind? Dass sie es ohnehin nicht schaffen, den hohen Anforderungen gerecht zu werden, auch wenn sie sich noch so sehr abmühen? Hilft es den einen, den anderen etwas wegzunehmen? Stärkt es das Vertrauen in die Demokratie, wenn man ihnen sagt, dass „sie“ niemals zu „wir“ werden kann? Das Dogma des „Wenn du in dem Sinn, wie wir es verstehen etwas leistest, wirst du auch anerkannt“ führt unweigerlich zum (gefühlten) Scheitern und dem Glauben, niemals gut genug zu sein, um partizipieren zu dürfen. All das sind Signale, die es Menschen schwer machen, Teil von etwas sein zu können und auch zu wollen, in dem Gemeinschaft und Solidarität jeden Tag neu ausverhandelt werden müssen. Was natürlich anstrengend ist.
Man fängt an, sich abzuwenden und in der Verzweiflung die Identität anzunehmen, die einem vom billigen nationalistischen Populismus in fein säuberlichen PR-Häppchen angeboten wird. Eben weil die eigene Identität nicht gut genug zu sein scheint. Selbst dann, wenn die PopulistInnen auch die sind, die ihre AnhängerInnen über das Hintertürl – oder auch völlig offen – sanktionieren. Solange es jemanden gibt, auf den man’s schieben kann, ist doch alles pipifein. Es sind Mechanismen, wie wir sie aus der Geschichte zur Genüge kennen, die jedoch immer und immer wieder greifen. Wir haben die Chance, im Gedenken (das Wort „Denken“ steckt ja sogar schon drin) darüber nachzudenken, wie es zu einem 1938 kam. Immer und immer wieder. Wir haben die Chance darauf hinzuweisen, wie diese Prozesse ablaufen und dass sie in Katastrophen führen können. Wir haben die Möglichkeit, Geschichte zu etwas zu machen, das nicht nur als Historie in Schulbüchern steht sondern zu lebendigem Gedenken wird. Hören wir nicht bei Kranzniederlegungen und Betroffenheitsreden auf, sondern erklären wir das „Warum“ und „Wie“. Nun werden manche sagen: „Jo, eh. Passiert doch eh schon.“ Nun: Ja. Es passiert. Doch immer noch viel zu wenig. Und diese Gedenkarbeit wird noch dazu durch aktuelle, alltägliche politische Entwicklungen immer und immer wieder konterkariert, als „linkslinkes Bahnhofsklatschergutmenschenzeug“ verunglimpft oder schlicht nicht als wertvoll anerkannt.
Wenn schlagende Burschenschafter im Parlament sitzen, Konservative mit Rechtsextremismen offenbar gutgelaunt zusammenarbeiten und ein blauer „Einzelfall“ den nächsten überholt, bekommt man den Eindruck, man müsse als ErinnerungsarbeiterIn täglich von vorne anfangen. Wir können und müssen Gedenken als etwas Modernes und Bewegliches begreifen. Als etwas Identitätsstiftendes, das Empathie und Solidarität fördert anstatt zu spalten. Wir können aber auch einfach die Hände in den Schoß legen, auf diversen Veranstaltungen unseren Sekt schlürfen und uns in der trügerischen Sicherheit wiegen, dass so etwas ohnehin „Nie wieder“ passieren wird. Woher wissen wir eigentlich, dass wir nicht schon mitten drin stecken? Just askin‘.