Als ich vor ziemlich genau fünf Jahren diesen Blog begann, überlegte ich, wie ich ihn denn nennen sollte. Ich stand vor meinem Bücherregal, las die Titel auf den Buchrücken, um mich inspirieren zu lassen. Da standen sie: Die Geschichten vom Franz, die Gretchen Sackmeiers, Maikäfer flieg, das Austauschkind, der Pudding und insgesamt so ziemlich alle Bücher, die Christine Nöstlinger je geschrieben hat. Schließlich entschied ich mich für die anglisierte Form der „Feuerroten Friederike“. Friederike, die so anders ist als die anderen. Wissbegierig, katzenkaterliebend. Mit ihrer Annatante und den widerborstigen roten und sehr speziellen Haaren. 

Seit ich lesen und somit denken kann, begleitete mich Christine Nöstlinger. Die Erinnerungen an die damaligen Besuche einer Filiale des Landesverlags in Gmunden gemeinsam mit meiner Mutter und den gekauften Bücherschätzen, die gar nicht schnell genug gelesen werden wollten, sind für mich eng mit der Autorin verbunden.
Christine Nöstlinger und Franz hielten mir die Hand am Schulweg. Sie standen hinter mir und nickten voller Verständnis, wenn ich in der Volksschule mit Freundinnen Streit hatte und traurig war. Rosa Riedl saß am Abend mit mir vor dem Fernseher, strickte und hörte mir zu, wenn ich mich unverstanden fühlte – den kleinen Kater Anatol auf dem Schoß. Später dann, als ich schon Teenager war, fühlte ich mich mal als Wurschtelfrau, mal als Gretchen Sackmeier, die mit Gewichtsproblemen und der ersten große Liebe kämpfte. Ich hatte die ersten Haarfärbeunfälle (allerdings nicht am Kühlschrank sitzend) wie Babs und manchmal war tatsächlich am Montag alles ganz anders. 

Und dann „mein“ Buch. Das Buch, das ich sicher zwanzig, dreißig, fünfzig Mal gelesen habe und das ich als Geschichtenkurierin als Leihgabe an das Salzburg Museum gab als Symbol dafür, wie sehr es mich und meine Liebe zur Geschichte beeinflusst hat: Maikäfer, flieg! Ich machte mir Sorgen um den Großvater und freundete mich mit Cohn an. Ich teilte die Angst um Christls Vater und stupste in Gedanken den Ärmel seiner Wehrmachtsuniformjacke noch etwas nach, damit sie im Ofen auch wirklich komplett verbrannte. Engel und Erzengel waren in meinen Augen blöde und überhebliche Kühe. 

Christine Nöstlingers Sprache klingt seit beinahe dreißig Jahren in meinen Ohren, ihre Texte sind eingebrannt in meine eigene Biographie. Und die Bewunderung für diese Autorin wuchs mit jedem Satz, den sie in der Öffentlichkeit aussprach: Über die Unverbrüchlichkeit des Menschlichen und ihr Wehmut und ihr Zorn ob der Bösartigkeit mancher Leute da draußen. Mit einer Ehrlichkeit und einer Geradlinigkeit, wie sie uns allen nicht schaden würde. In Tagen wie diesen. In Zeiten, wo Gedankenlosigkeit und Hass sich wieder Bahn zu brechen drohen. 

Die Nachricht über Christine Nöstlingers Tod erfuhr ich im Radio. Auf dem Heimweg von einem Buchladen. Ich sitze nun da, eine sehr alte Ausgabe der „Feuerroten Friederike“ vor mir. Und ich lese die Zeilen:

So still wie jetzt war es auf dem Kirchplatz sonst nur mitten in der Nacht. Dann rief Friederike: „Achtung, fertig, los!“ Bei „los“ legte sie die Stirn in Falten. Ihre Haare wurden wie riesige rote Flügel, und schon war sie in der Luft.“

Ich bin selber überrascht über meine Trauer. Sie ist groß, obwohl ich Christine Nöstlinger nie persönlich begegnet bin. Und doch war sie all die Jahre immer ein bisschen bei mir. In den Krisen, den stillen Momenten ebenso wie den lustigen und schönen. Mit der Taschenlampe unter der Bettdecke, wo ich doch schon längst hätte schlafen sollen. Sie und Rosa Riedl und Anatol und Franz und Christl und Mimi und das Austauschkind und der Großvater und Cohn. Sie alle haben dabei geholfen, mich verstanden zu fühlen. 

Mit Christine Nöstlingers Tod rücken sie unter der Decke noch ein kleines Stückerl näher, trösten mich und legen ein Packerl Taschenlampenreservebatterien auf meinen Kopfpolster. Ich weine ein bisschen.

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