5. Mai 2019 – Tag der Befreiungsfeier in Mauthausen. Die Vorsitzende der Sozialistischen Jugend Julia Herr setzte einen Tweet ab.
Darauf folgten Vorwürfe vor allem von konservativer Seite, Julia Herr würde die Befreiungsfeier für den Wahlkampf instrumentalisieren. Und sogar eine bearbeitete und dann wieder gelöschte Version des Fotos tauchte auf.
Interessant. Engagieren sich doch Julia Herr und Sozialistische Jugend seit jeher im Sinne des Antifaschismus und der politischen Bildung. Jedes Jahr ist die SJ mit Delegationen bei den Befreiungsfeiern – nicht nur in Mauthausen – vertreten. Darüber hinaus werden Antifaschismus-Seminare organisiert. Und politische Bildung ist ein Anspruch, dem sich die Organisation stellt. Ebenso wie einem zutiefst politischen Gedenken. Unpolitisches Gedenken ist auch ein Widerspruch in sich. Warum? Das soll im Folgenden Kern unserer Überlegungen sein.
Das Narrativ des Apolitischen und warum es problematisch ist
Wenn gefordert wird, dass keine Bezüge zu aktuellen politischen Entwicklungen – etwa die lange Liste an einschlägigen Äußerungen aus den Reihen der FPÖ (hier eine Zusammenstellung seit Beginn der Regierungsbeteiligung) – hergestellt werden darf, ist das eine Forderung nach Historisierung von Erinnerung. Eine gefährliche Forderung. Impliziert sie doch, dass Gedenken etwas statisch Zeremonielles sein muss, das nur dann berechtigt ist, wenn es den Antifaschismus draußen hält. Damit bleibt nichts mehr über von dem, was Erinnerungspolitik eigentlich ist: Die Verbindung von Geschichte und deren diskursiver Ableitungen. Apolitisches Gedenken wäre reiner Jahreszahlenhistorismus begleitet von der Botschaft, dass Faschismus und Rechtsextremismus etwas Gewesenes seien. Etwas Historisches, das nicht mehr existiere und auch nicht mehr möglich wäre. Sehr bequem. Hieße das doch, dass man selbst bei noch so massiven rassistischen, antisemitischen und menschenverachtenden Äußerungen schlicht abwinken könnte, um im selben Atemzug zu sagen „Nein, nein, nein. Vergleiche mit dem, was damals geschah, sind unzulässig“. Kleine Bemerkung am Rande: Vergleiche sind keine Gleichsetzungen. Ohne Vergleiche wären weder Erinnerung noch moderne Geschichtswissenschaft möglich. Dass bestimmte politische Akteur*innen damit recht zufrieden wären, wissen wir.
Die problematische Umdeutung des Antifaschismus
Ein Seitenarm der paradoxen Forderung nach apolitischer Erinnerung ist die Darstellung von Antifaschismus als etwas Negatives. Antifaschismus als etwas Gewalttätiges und Extremes, als etwas Zerstörerisches und Unfrieden Stiftendes. Vom antifaschistischen Grundkonsens (übrigens der eigentliche Minimalkonsens), auf den man sich nach 1945 ursprünglich geeinigt hat, ist nicht mehr viel übrig. Diese Entwicklung reicht – auch wenn sie jetzt wieder sehr präsent ist – lang zurück. Betrachtet man die Rezeption des Widerstands gegen das NS-Regime, der in der kurzen Phase von 1945 bis etwa 1947 primär dazu diente, sich gegenüber den Allierten als widerständiges Österreich zu präsentieren und die massive Beteiligung österreichischer Täter*innen zu externalisieren, so ist diese ein gutes Beispiel für den Umgang Österreichs mit der Verantwortung. Mit Auswirkungen bis heute.
Spätestens mit den 50er Jahren etablierten sich das Gefallenengedenken und die Wiedereingliederung von Nationalsozialist*innen. Der Slogan „Im Gedenken an alle Opfer beider Weltkriege“, der so oder ähnlich an unzähligen Kriegerdenkmälern zu finden ist, deckte das Gedenken an die Opfer und Verfolgten des NS-Regimes und deren Bedürfnisse komplett zu. Zusätzlich verstärkte der Beginn des Kalten Krieges die Abgrenzungspolitik in Richtung der KPÖ sowie die Distanzierung in SPÖ und ÖVP zu Widerstandskämpfer*innen aus den eigenen Reihen (siehe ausführlicher in „Die Rezeption Franz Jägerstätters im Spiegel der Widerstandsrezeption nach 1945“ ab Seite 34).
Die jetzt wieder wahrnehmbaren Forderungen nach Entpolitisierung von Gedenken ist nichts anderes als eine Ausformung des „Wir gedenken aller Opfer“. Also nothing new.
Die Überlebenden im Zentrum
Ein Argument, das rund um den Tweet von Julia Herr ebenfalls bemüht wurde ist auch jenes, dass man lieber die Überlebenden ins Zentrum stellen sollte, anstatt einschlägige Äußerungen der FPÖ zu thematisieren. Es wird implizit suggeriert, Julia Herr würde das Gedenken instrumentalisieren. Dabei sind zutiefst politische Appelle und Mahnungen von Überlebenden, ihren Angehörigen und Vertreter*innen von Opferverbänden integraler Bestandteil der Gedenk- und Befreiungsfeiern. Auch dieses Jahr.
So nahm etwa der Präsident der IKG Oskar Deutsch Stellung zu aktuellen Entwicklungen: „Was zu Mauthausen und den vielen anderen KZ geführt hat, existiert weiter: der Antisemitismus. Die Shoa sind nicht nur die Gaskammern, die Krematorien, die Massengräber – die Shoa war möglich, weil Menschen andere Menschen für unwert erklärt haben. Weil sie Vorurteile verbreitet haben, Hass wurde gesät.“
Guy Dockendorf, Präsident des Comité International de Mauthausen und Sohn des Überlebenden Metty Dockendorf, mahnte bei der Befreiungsfeier in Ebensee: „Wir nehmen die mit Fremdenhass, Rassismus und Intoleranz gespickten Parolen und Reden der Rechtsextremen nicht hin. Mit Sorge erfüllen uns auch die Brandreden verantwortlicher Politikerinnen und Politiker, in denen sie internationale Verträge in Frage stellen und zu Krieg aufrufen und dadurch viele Menschen in die Flucht treiben und zu einem menschenunwürdigen Leben zwingen. Wir verurteilen alle politischen Entscheidungen, die insbesondere die sozialen Rechte der schwächsten Glieder der Gesellschaft weiter beschneiden.“
KZ-Überlebende richteten jüngst einen offenen Brief an Sebastian Kurz, in dem sie zu einer konsequenten Haltung gegenüber rechtsextremen Tendenzen in der Regierung aufforderten. Und als in der Zeitschrift „Aula“ KZ-Überlebende verunglimpft wurden, führte der Überlebende Aba Lewit eine Beschwerde gegen die Republik Österreich vor dem EGMR.
Opferverbände und von Überlebenden gegründete Organisationen wie das Comité International de Mauthausen, das Mauthausen Komitee Österreich, die ANED (Associazione nazionale ex deportati nei campi nazisti) oder die Österreichische Lagergemeinschaft Mauthausen haben trotz oft widriger Umstände über Jahrzehnte hinweg Befreiungsfeiern organisiert und tun das bis heute. Generationen von Jugendlichen ermöglichten sie den Besuch von Erinnerungsorten und den Zugang zu politischer und historischer Bildung.
Wer der Ansicht ist, politische Botschaften und das Kommentieren aktueller politischer Entwicklungen habe auf Befreiungsfeiern nichts verloren, hat die Arbeit und das Selbstverständnis all dieser Organisationen und deren Vertreter*innen nicht verstanden. Julia Herr hat genau in diesem, ureigensten Sinne agiert. Nicht mehr, nicht weniger. Wenn sie mahnt, so erfüllt sie die Erwartung an nachfolgende Generationen. Alessio Ducci, Sohn des Überlebenden Alberto Ducci, formulierte genau diesen Auftrag bei der Befreiungsfeier in Ebensee:
„Seitdem mein Vater uns verlassen hat, habe ich beschlossen, sein Engagement bei ANED fortzusetzen, was aber seit dem Ableben der letzten Zeitzeugen immer schwieriger wird. Jedes Jahr begleiten wir Hunderte von Schüler*innen auf unserer „Pilgerfahrt“ und besichtigen die Lager von Dachau, Mauthausen, Gusen, Ebensee, Hartheim und die Risiera von San Sabba in Triest. Es sind fünf Tage, während derer wir die Möglichkeit haben, das Thema und die verschiedenen Aspekte der Deportationen zu vertiefen. Es ist auch eine wichtige Gelegenheit, darüber nachzudenken, was diese Erinnerungsreisen für die aktuelle Situation bedeuten. Jeden Tag mache ich mir darüber Gedanken, ob dass, was ich, was wir tun ausreicht, damit den jüngeren Generationen bewusstwird, was Schreckliches an diesen Orten geschehen ist, damit kein Mensch mehr gezwungen sei, so etwas erleiden zu müssen.“
Und weiter:
„In einigen Jahren werden wir aus demselben Grund das Bedürfnis haben, die Schicksale und Identitäten der Tausenden von Menschen, die in unserem Mittelmeer ertrinken zu rekonstruieren. Die meisten kommen während dieser Fahrten übers Meer ums Leben, auf die sie sich begeben haben, nicht nur aus Hoffnung auf ein besseres Leben, sondern um ihr Leben vor Kriegen und Gewalttaten zu retten! Kinder, Frauen und Männer werden von den Wellen des Mittelmeers verschlungen und wir lesen solche Nachrichten kurz auf unseren Smartphones, wenden uns wieder ab und nehmen unser alltägliches Leben wieder auf. In totaler Indifferenz. Ich wende mich auch an die anwesenden Politiker: Ich bitte Sie, richten Sie Ihren Wahlkampf nicht darauf aus, Ängste zu schüren! Schließen wir unsere Häfen! Erbauen wir Mauern! Wer diese Parolen nutzt, um Konsens zu gewinnen, steckt sich jedes Mal in gewisser Weise eine Medaille an, jede dieser Medaillen ist ein untergegangenes Boot! Ich frage mich auch, was wohl jene sagen würden, die ihr Leben für unsere Freiheit geopfert haben, wenn sie sähen, wie ein italienischer Staatsminister sich mit einem Maschinengewehr im Arm fotografieren lässt und immer wieder unerschrocken fordert: die Italiener zuerst!“
Gedenken und Erinnerung sind zutiefst politisch. Wer glaubt, Gedenken existiere als reiner Selbstzweck, um ein Mal im Jahr mit betroffenem Blick Kränze niederzulegen, der glaubt auch, Distanzierung sei ein antifaschistischer Akt.
Wer untätig ist, ist Täter*in des Vergessens
Was im öffentlichen Diskurs nicht klar und deutlich gesagt wird, soll hier noch einmal klargemacht werden: Organisationen wie das MKÖ wurden von Opfern begründet, um für ein „Nie wieder!“ zu sorgen. Wer diese Organisationen attackiert, niedermacht und diskreditiert, attackiert das Vermächtnis der Ermordeten und der Überlebenden. Wer die Attacken zulässt, indem er*/sie* sich nicht äußert, ist nicht nur untätig, sondern Täter*in des Vergessens.
Wer politische, eindeutig antifaschistische Äußerungen gerade am Tag der Befreiungsfeiern kritisiert, während Attacken auf Opferverbände, Antifaschist*innen, Grundprinzipien der Demokratie und zivilgesellschaftliche Organisationen schon so alltäglich geworden sind, dass wir mit dem Dokumentieren nicht mehr nachkommen, agiert im Sinne derer, die attackieren.
Wer Gedenk- und Befreiungsfeiern zu Veranstaltungen ohne politische Appelle machen will, agiert im Sinne derer, die diese Veranstaltungen abschaffen wollen. Wer damit nicht einverstanden ist, dass Delegationen von Organisationen und deren Vertreter*innen, die sich seit Jahrzehnten antifaschistisch engagieren, sich antifaschistisch äußern, sägt am Minimalkonsens: dem „Nie wieder!“ Einem „Nie wieder!“, das niemals zur puren Phrase weihrauchumschwängerten Selbstzwecks werden darf.
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