Ein Gastbeitrag von Daniela Brodesser.
Fakt ist, dass zwar 80% des reichsten Drittels in diesem Land wählen gehen, jedoch nur 50% des ökonomisch schwächsten Drittels. Und diese Schere wird noch weiter auseinander driften, je mehr Menschen durch den Verlust der Jobs, das niedrige ALG, die fehlenden Perspektiven sich in prekären Situationen befinden.
Warum ist das so?
Menschen in prekären Lebenslagen beteiligen sich wesentlich geringer an politischen Entscheidungsprozessen als finanziell besser gestellte. Das hat mehrere Gründe. Einerseits weil das Gefühl vorherrscht, dass die eigene, einzelne Stimme sowieso nichts verändern, nichts bewegen kann. Andererseits fehlt durch den Existenzkampf die Kraft ums sich intensiver mit Politik auseinanderzusetzen.
Warum fühlen sich die Menschen von der Politik nicht vertreten/nicht wahrgenommen?
Es fehlt in der Politik das Verständnis, vor allem aber der Einblick in die Realtität der Betroffenen, es herrscht Privilegienblindheit. Entscheidungen werden allzu oft zugunsten der “oberen” Bevölkerungsschicht verzerrt. Während die Oberschicht Zugang zu politischen Entscheidungsträger_innen hat, engen Kontakt pflegt, es mitunter den Anschein von “Freunderlwirtschaft” hat, gibt es für die “unten” keine Lobby. Wer von den sozial schwächer Gestellten hat den in Realität Zugang zu Enscheidungsträger_innen? Wer wird gehört? Und vor allem ernst genommen? Und genau das nehmen die Menschen natürlich wahr. Sie können nichts verändern, denn sie haben nicht mal Zugang zu “denen”.
Was ist Privilegienblindheit und warum funktioniert der berühmte Blick über den Tellerrand nur eingeschränkt?
Es bedeutet, nie Armut, Existenzangst richtig miterlebt zu haben. Vielleicht am Rande. Vielleicht kurzfristig. Aber nie längerfristig die Sorgen von Armutsgefährdeten durchgemacht zu haben. Rückhalt von Familie und Freund_innen zu haben, zum Beispiel. Gut vernetzt zu sein. Seit jeher in einer politischen Funktion tätig zu sein. Es bedeutet keinesfalls, dass sich diese Menschen nicht um die Anliegen Betroffener kümmern, nicht empathisch seien. Aber die Realität, den Alltag kann man nicht nachempfinden. Nicht durch Hörensagen. Nicht durch Lesen. Nicht durch Erzählungen. Es ist zu weit weg von der eigenen Lebensrealität. In der zwar sicher oft genug auch gekämpft werden musste, jedoch nie darum, ob man z.B. die Miete zahlen kann oder doch das Geld für Lebensmittel hernehmen muss. In der man Beschämung vielleicht verstehen kann, jedoch nie auch nur ansatzweise nachempfinden. In der es für viele unverständlich ist, weshalb es Rückzug und Isolation gibt, wo doch das Gegenteil wesentlich besser wäre. In der man schwer nachvollziehen kann, weshalb ein Shitstorm gegen Betroffene schlimmer sein soll als gegen jemande_n, der_die dies öfters erlebt (ja, ist schlimmer, weil einfach der Rückhalt fehlt, das Netzwerk, die Menschen, die dich wieder aufbauen, die dir zur Seite springen – all das fehlt).
Wie gesagt, ich spreche Politiker_innen absolut nicht ab, sich darum zu bemühen, über den eigenen Tellerrand zu schauen, das versuchen sie wirklich. Doch zwischen bemühen und versuchen, die Situation zu verstehen oder es selbst durchlebt zu haben, ist ein nicht unerheblicher Unterschied.
Wie dagegen wirken?
Vor allem brauchen wir eins in der Politik: Menschen, die fehlende Perspektiven, mangelnde Chancen, soziale Ungleichheit und die ganz alltäglichen realen Probleme von Armutsgefährdeten kennen, weil sie sie selbst durchlebt haben. Politische Arbeit in dem Bereich kann nur dann glaubwürdig Betroffene vertreten, wenn sich die Menschen ernst genommen, gehört und wahrgenommen fühlen. Und sie dürfen dann vor allem eins nicht: in das Rad der sogenannten “Freunderlwirtschaft” verfallen. Sie müssen bleiben was sie sind: Vertreter_in, Sprachrohr und Anlaufstelle für Betroffene. Nur so erreichen wir die Menschen, die finanziell zu kämpfen haben, die deswegen beschämt werden, denen soziale Teilhabe genauso fehlt wie Wertschätzung und Perspektiven. Nur mit Menschen, die authentisch sind, werden wir jene erreichen, die sich aktuell nicht beteiligen, in dem Glauben, ihre Stimme sei unerheblich.
Fakt ist, je mehr Prekariat, desto weniger Wahlbeteilung durch “unten”, desto mehr Stimmen für jene Parteien, deren Klientel die besser Verdienenden sind.
Fakt ist, wenn wir nicht schnell das Arbeitslosengeld erhöhen, ist die Zahl der Menschen in prekären Verhältnissen bald unglaublich hoch.
Fakt ist auch, dass wir nun dringend einen Weg finden müssen, glaubhaft jene Menschen zu vertreten, die um ihre Existenz fürchten, die Perspektiven suchen, die denken, ihre Stimme würde sowieso nicht gehört werden. DAS ist meiner Meinung nach die wichtigste Aufgabe. Wir müssen diesen Menschen eine Stimme geben. Täglich.