Ungleichverteilungsdebatten am Beispiel von Sozial- und Versicherungsleistungen zu führen mag als erster Reflex vielleicht befriedigend sein. Keine Überraschung, bekommen wir doch immer noch ein Konzept als Ideal vorgeführt, das nachgewiesenermaßen nicht funktioniert: Wer gut verdient, leistet viel. Wer viel leistet, kann für sich und seine Familie sorgen. Wer für sich sorgen kann, ist selbstbestimmt und erreicht das Maximum an Freiheiten. Übersehen werden dabei so viele Dinge, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Doch ich werd’s versuchen.

Der versprochene Aufstieg

Ich stamme aus der ersten Generation (die der Millenials), für die das Aufstiegsversprechen nicht mehr funktioniert hat. Nur hat uns das leider niemand gesagt. Vermittelt wurde uns das Prinzip, dass eine gute (Aus)Bildung ein Garant ist für sozialen Aufstieg und finanzielle Sicherheit. 25 Jahre später stehe ich da – und rund um mich herum eine ganze Menge an geschätzten und gemochten Menschen aus der gleichen Alterskohorte – und muss einsehen, dass das eine der größten Lebenslügen unserer Zeit ist, die sich sehr hartnäckig hält.

Wir waren die Generation Sparpakete, die Generation Studiengebühren und 2008er-Wirtschaftskrise, die Generation Praktikum und Prekariat. Die Generation, die sich dem Dogma entsprechend für richtig wenig Geld in die unterschiedlichsten psychischen und physischen Überlastungserkrankungen gehackelt hat, während ihr von politischer Seite Prügel zwischen die Füße geworfen wurden, und dennoch grade mal mit Ach und Krach ihr Leben bestreiten kann. Das Leistungsdogma kriegen wir trotzdem nicht aus dem Kopf in der Hoffnung, doch irgendwann einmal für das „alles richtig gemacht“ inklusive diverser Abschlüsse und kilometerlanger Lebensläufe finanziell das Kopferl getätschelt zu kriegen.

…und warum das gebrochene Versprechen erst recht Empathie auslösen sollte

Vielleicht befremdet mich genau deswegen diese ewig gleiche, ermüdende und immer wiederkehrende Diskussion darüber, ob jetzt diese Familie mit so vielen Kindern und jene*r Alleinstehende*r ohne Kinder zu viel Sozialhilfe, Familienbeihilfe, Arbeitslosengeld oder {insert Leistung xy} bekommt. Natürlich gern in Verbindung mit dem Vorwurf, es seien „leistungslose“ Einkommen. Vielleicht befremdet es mich auch, weil ich in den letzten beiden Jahren Menschen kennengelernt habe – einige von ihnen sind bis heute meine Freund*innen geblieben – die im oben genannten Sinne „geleistet“ haben. Darunter waren leitende Angestellte, Facharbeiter*innen, Pädagog*innen, Lehrlinge, Akademiker*innen, Selbständige, Reinigungskräfte und ja: auch Frauen, die nicht in Erwerbsarbeit standen sondern zu Hause für die Familie alles gegeben haben.

Sie alle hatten eines gemeinsam: sie waren von der „Leistung“ so ausgebrannt und krank geworden, dass sie nicht mehr konnten. Alle von ihnen wollten so gerne und haben es jeden Tag versucht. Ließen sich aus Angst, den Job, die Anerkennung, die Existenzgrundlage und menschliche Zuwendung zu verlieren unfassbare Dinge gefallen. Waren so lang stark, bis Körper und Seele schlicht aufgaben. Mäandernd zwischen Selbstzweifeln, unterschiedlichsten Traumata, Scham und dem Willen, es schnell wieder auf die Beine zu schaffen, um aus dem Krankengeldbezug möglichst rasch wieder rauszukommen. Weil „das gehört sich ja nicht“.

Einige von ihnen kämpften seit Jahren, hatten die zigste Erschöpfungsdepression, waren ausgesteuert. Alle von ihnen wollten so sehr und konnten aber nicht, weil kaputt. Ausgezuzelt von einem Leistungsdogma und der Panik, ja nicht zu lang von einem Sozialstaat „abhängig“ zu sein. Alle von ihnen standen unter finanziellem Existenzdruck. Keine gute Grundlage, um gesund zu werden. Sie haben nichts anderes als tief empfundene Empathie verdient.

Unbeachtete Leben

In der Debatte um sozialstaatliche Leistungen, die Menschen nun einmal zustehen, werden diese Leben nicht gesehen. Wenn über Referenzbudgets geredet wird und darüber, wie wichtig es ist, einen Sozialstaat zu haben, der armutsfest ist, dann geht es genau um diese Leben. Um diese Geschichten und darum zu verstehen, dass Existenzangst vernichtend sein kann. Über Generationen hinweg. Finanzielle Absicherung ist da nur eine einzige Schraube von vielen auf dem Weg zu Chancengleichheit, Gleichstellung und Teilhabe. Aber eine wichtige.

Ebenso wichtig ist es wahrzunehmen, dass diese Schicksale keine Einzelfälle sind. Es ist eine Epidemie. Wir alle sind eine psychische Krise, eine traumatisierende Erfahrung, einen einzigen Schicksalsschlag davon entfernt, von eine*r Leistungsdogmatiker*in zu einem der zig Beispiele zu werden, die dann im Boulevard landen und über die sich mokiert wird. Dann erst erlebst du wie es ist, plötzlich so gut wie keine Lobby mehr zu haben. Deine erwerbsarbeitenden Freund*innen (also die, die dir vielleicht noch bleiben) geben dir entweder gut gemeinte Ratschläge oder lassen dich anderweitig (bewusst oder unbewusst) spüren, dass du dich aber bitte schon a bissl zammreissen sollst.

Du verschwindest, wirst unsichtbar und ziehst dich auch aktiv zurück, um irgendwie zurecht zu kommen, während du Anträge stellst, auf Behörden rennst und versuchst, dir die Scham nicht anmerken zu lassen. Möglichst schnell wieder arbeiten gehen um nicht mehr auf der falschen Seite zu stehen. Und selbst in der schlimmsten Krise hast du gefälligst optimistisch zu sein und dich zu bemühen. Weil wehe wenn nicht!

Das Befremden geht weiter

Vielleicht befremdet mich die ganze Diskussion auch deswegen so, weil es eine zutiefst ideologische Frage ist, ob man sich die Fähigkeit aneignen will, all diese Leben zu sehen. In ihrer Komplexität, ihren unsichtbaren Kämpfen, ihren Graustufen und dem Versuch, über die Runden zu kommen. Neiddebatten offenbaren sich nicht an einer Forderung nach Vermögens- und Erbschaftssteuern. Sondern am Umgang mit all diesen Leben und der Frage, wie wir uns selber als Gesellschaft behandeln. Uns, die wir nur einen Schicksalsschlag davon entfernt sind, nicht mehr dazuzugehören und als lästiger Sozialfall abgetan zu werden. Das Herumwerfen absoluter Zahlen ist nicht progressiv, sondern verschiebt den Fokus zugunsten derer, die es schon immer gewöhnt waren, dass ihr Kontostand und ihr guter Name das schon alles in ihrem Sinn richten wird. Die halt doch gleicher sind als andere und sich keine Sorgen machen müssen um die materielle Zukunft ihrer Kinder.

Leistungsdogma, grab dich ein

Es ist eine zutiefst ideologische, aber auch intellektuelle Frage, das Leistungsdogma zu beerdigen und stattdessen andere Fragen zu stellen: Wie können wir dafür sorgen, dass Arbeit nicht mehr krank macht? Wie schaffen wir es, Armut zu etwas werden zu lassen, das wir bald nur noch aus Geschichtsbüchern kennen? Wie können wir jene Vielen unterstützen, die von ihrer Hände und ihrer Köpfe Arbeit (und damit meine ich alle Facetten des Arbeitens; von Erwerbsarbeit bis zur unbezahlten Care-Arbeit) nicht mal ansatzweise würdig leben können? Wie stellen wir sicher, dass demokratische Beteiligung alle mitnimmt? Dass jene, die richtig viel haben, ganz selbstverständlich ihren entsprechenden Beitrag leisten? Wie können wir verhindern, dass immer mehr Menschen unsichtbar und ungehört ob der unrealistischen Anforderungen an sie verbrennen, während wir damit beschäftigt sind, an Einzelbeispielen herumzurechnen?

Märchenstunde

Ja, es geht ganz schnell, plötzlich auf der anderen Seite – oder eher: am unteren Ende der Nahrungskette – zu stehen. Verstört ob der Erzählung, die man nicht aus dem Kopf rausbekommt: Wer arbeitet, lernt, fleißig ist, steigt auf. Oder kann zumindest gut davon leben. Das Herumrechnen an der Sozialhilfe, an Versicherungs- und Transferleistungen ändert halt nichts daran, dass dieses Narrativ ein hartnäckiges Märchen ist und nach wie vor viel Schaden anrichtet.

Naiv sind nicht jene, die sich ein gutes, würdiges Leben für alle wünschen. Naiv sind die, die glauben, dass ein Nach-unten-Treten das Märchen vom Leistungsdogma vielleicht doch noch einlösbar macht.