Ob in Leitartikeln oder in Debatten auf Social Media, bei Abstimmungen über das Aufstellen von Windrädern, Dieselautos, gendergerechte Sprache, Rechte der LGBTIQA+ Communities, Lastenfahrrädern, Migrationspolitik: Es herrscht eine unverbrüchlich vorausgesetzte Grundannahme einer tiefliegenden gesellschaftlichen Spaltung. Nun wird mit dieser Grundannahme fröhlich Pingpong gespielt, aus ihr entstehen politische Forderungen, die wiederum in etablierten Medien landen, worüber abermals in Leitartikeln und auf Social Media diskutiert wird, wo abermals die Spaltung unhinterfragt vorausgesetzt wird, worüber weitere politische Forderungen geäußert werden, die…ihr ahnt, wie’s weitergeht.

Es ist, was die Autoren des Buches „Triggerpunkte“ als „Ungleichheitskonflikte“ bezeichnen. Die drei Soziologen haben sich auf Basis von Fokusgruppen angesehen, ob die Annahme der starken Spaltung der deutschen Gesellschaft so haltbar ist. Was schon mal deutlich ist: Es gibt den einen, alles bestimmenden Konflikt nicht. Auch wenn politische Kommentator*innen oder Parteikommunikator*innen auch noch so oft behaupten, es gäbe ihn. Es geht vielmehr um eine „Reihe von Themen, die mehr oder minder scharf debattiert werden, wann immer sie in den Fokus geraten“ (Mau, Lux, Westheuser: Triggerpunkte. S. 42). Es sind Konflikte – wertfrei als „Typus sozialer Beziehungen, der Gesellschaft prägt“ (Mau, Lux, Westheuser. S. 43) definiert – die in vier Arenen der Ungleichheit ausgetragen werden. Mehrfach und gleichzeitig:

  • Oben-Unten-Ungleichheit: verteilungs- und sozialpolitische Konflikte um ökonomische Güter und wohlfahrtsstaatliche Ansprüche.
  • Innen-Außen-Ungleichheit: migrations- und integrationspolitische Konflikte um Zugang und Mitgliedschaft.
  • Wir-Sie-Ungleichheit: identitätspolitische Konflikte um Anerkennung und Antidiskriminierung.
  • Heute-Morgen-Ungleichheit: Konflikte um ökologische Güter und Schädigungen.

Wir sehen also schon: Selbst wenn wir aufgrund der Sicht-/Nichtsichtbarkeit von besonders dominanten Themen annehmen, dass es „immer nur um XY geht“, so ist das nicht mehr und nicht weniger als eben eine subjektive Wahrnehmung.

Da das hier nicht in eine kilometerlange, fade Textwurscht ausarten soll, möchte ich einige Dinge ansprechen, die besonders in der aktuellen Lage (Stand: Wahlkampf in Deutschland, blauschwarze Koalitionsverhandlungen in Österreich. Jänner 2025) spannend sind und vielleicht das eine oder andere Aha-Erlebnis verursachen könnten.

Das verflixte Leistungsprinzip

Wir kennen sie, die Aussagen wie „Leistung muss sich lohnen“ und „Wer arbeitet, darf nicht der D**** sein“. Slogans, die wir quer durch die Parteienlandschaft finden. Es ist das, was als Meritokratie bekannt ist. „Der Meritokratiegedanke knüpft legitime Ungleichheiten an immer wieder zu erbringende individuelle Anstrengungen, an erworbene Qualifikationen und die ’natürliche‘ Verteilung von Talenten. (…) Die Meritokratieerzählung erlaubt es, Erfolg und Anstrengung weitgehend gleichzusetzen und soziale Ungleichheiten als gerechtfertigt zu beschreiben. Zudem wird die Leistungserwartung eng mit der Vorstellung notwendiger Anreize verknüpft. Ungleichheit wird als positiver Anreiz interpretiert, der zu wertvollen Anstrengungen anstachelt“. (Patrick Sachweh, Deutungsmuster sozialer Ungleichheit. Zit.n. Mau, Lux, Westheuser: Triggerpunkte. S. 97)

Nun zeigt sich ein paradoxes Ergebnis: Lohnabhängige mit eher niedrigem Einkommen und begrenzten Chancen hängen diesem Versprechen am stärksten an, während gleichzeitig das Bewusstsein über Ungleichverteilung und die Forderung nach einer Verringerung der Einkommensunterschiede groß ist. Das macht’s natürlich nicht einfacher, für mehr Gleichheit zu mobilisieren. Wer über die Runden kommt, an Leistungsgerechtigkeit und ein offenes Chancensystem glaubt, hat wenig Anlass, eine nachdrückliche Verteilungsfrage zu stellen. (Mau, Lux, Westheuser: Triggerpunkte. S. 99-105, 108)

Leistungsgedanke und Aufstiegsversprechen sind also nach wie vor Sehnsuchtsort. Kein Wunder, wird diese Erzählung doch recht unhinterfragt in Wahlkämpfen rauf- und runtergeorgelt. Ebenso wie das Bild von einem angeblich neutralen, geradezu naturgesetzlichen Markt.

Der Tritt nach unten

Eben diese Meritokratieerzählung befördert eine „moralisierte Konkurrenz um die Verdientheit von Ansprüchen“ (Mau, Lux, Westheuser: Triggerpunkte. S. 109). Die Bruchstellen der kollektiven Solidarität sind hier in den Arenen „außen“ und „unten“: Also in Richtung Migrant*innen und/oder Erwerbsarbeitslose. Die Reichweite der Solidarität wird abgesteckt je nachdem, ob jemand als verdiente*r Empfänger*in betrachtet wird oder eben nicht. „Die Frage, ob, wie viel und an wen umverteilt werden soll, ist im Alltagsverstand stark an typisierte Wahrnehmungen verschiedener Empfängergruppen geknüpft, deren Bilder in Politik, Presse, Fernsehen, sozialen Medien und der modernen Folklore des Hörensagens produziert werden.“ (Mau, Lux, Westheuser: Triggerpunkte. S. 111)

Zusammengefasst: Oben-Unten-Ungleichheiten werden nicht mehr als strukturelles Problem gesehen, sondern werden zur moralischen Frage. Zum Beispiel einer Abgrenzung von Arbeitenden zu Nicht-Arbeitenden. Transferleistungen werden zu etwas Skandalösem, Empfänger*innen zu Personen, die zu disziplinieren seien. „Paradoxerweises gebiert die Klassengesellschaft so moralische Formen der Abgrenzung, deren Nebeneffekt es ist, Klasseninteressen zu demobilisieren.“ (Mau, Lux, Westheuser: Triggerpunkte. S. 116)

Auf den Punkt gebracht: Individualisierung, Konkurrenz und individuelle Kämpfe dominieren. Trotz der zunehmenden Ungleichverteilung von Ressourcen ist die Solidarisierung aus einem Bewusstsein über die eigene soziale und ökonomische Verortung heraus gelinde gesagt überschaubar.

Halt! Stopp! Was ist denn nun ein „Triggerpunkt“ eigentlich?

Der Begriff zielt auf jene Stellen, an denen Meinungsverschiedenheiten hochschießen. Konsens kann in deutlich artikulierten Dissens bis hin zur Gegner*innenschaft umschlagen. (Mau, Lux, Westheuser: Triggerpunkte. S. 278) Es sind „Punkte, an denen sachbezogene Diskussionen kippen und sich Auseinandersetzungen verhärten, obwohl es eigentlich um eher kleinere Themen geht. Tempolimit, die Gendersternchen, auch lokale Subventionen für Lastenräder: Das sind Chiffren für eine Summe von gesellschaftlichen Veränderungen, die etliche Leute unbehaglich finden. … Verhaltenszumutungen sind ein typischer Triggerpunkt. Da geht es um gefühlte Autonomieverluste, um Fragen des Habitus, der Sprache, der Lebensführung, also auch um den eigenen Heizungskeller.“ (Interview mit Steffen Mau)

„Klein“ meint hier nicht eine Wertung des einzelnen Themas, sondern dessen Verortung in sehr viel größeren Themenkomplexen wie Gleichstellung, Antidiskriminierung, Ökologie etc. in den Arenen, von denen hier bereits geschrieben wurde.

Triggerpunkte können an unterschiedlichen Erwartungshaltungen ansetzen. Ein Beispiel: ein Abweichen von einer bestimmten moralischen Vorstellung von konformen, vertretbaren Verhaltensweisen und Normen. (Mau, Lux, Westheuser: Triggerpunkte. S. 286-187) Hierzu passen Begriffe wie „Hausverstand“, „das geht zu weit“ oder „normal“, die in politischen Auseinandersetzungen um die berühmte stille Mehrheit gern bemüht werden. Sozial periphere, kleine Gruppen werden zentral und zur vermeintlichen Bedrohung.

DEN Volkswillen gibt es nicht. Von zündelnden Polarisierungsunternehmer*innen

Populäre Diagnosen gehen von einer massiven Lagerbildung aus. Die Autoren erteilen dem eine Absage und sehen eine deutlich schwächere Lagerbildung. Der Grund dafür: Die Unschärfe ideologischer Positionen und das Aufweichen von Parteibindungen. Genau das – und jetzt sind wir bei einem besonders wichtigen Punkt – öffnet der stimmungsgetriebenen, polarisierenden und emotionalisierenden Affektpolitik und den Polarisierungsunternehmer*innen Tür und Tor. (Mau, Lux, Westheuser: Triggerpunkte. S. 401)

Affektpolitik ist ein Art Politik, die darauf ausgelegt ist, den Gefühlshaushalt von Wähler*innen aktiv zu regulieren und Emotionen zu wecken. Polarisierungsunternehmer*innen passen sich an ein mediales Umfeld an, das ebenso Affekte – also Emotionalisierung – Aufmerksamkeit schafft. Die Ressourcen sind hierbei negative Emotionen: also etwa Wut und Erschöpfung.

Hier setzen Polarisierungsunternehmer*innen an. Wir kennen diese Strategien aktuell etwa von FPÖ und AfD. Es geht um die Verstärkung von Konflikt und politischer Frontenbildung (Beispiel: Kickls Konstruktion von der „Einheitspartei“ und ihm als Kämpfer gegen das Establishment), das permanente Bespielen von Freund-Feind-Schemata, Verunglimpfung, Herbwürdigung bis zur Entmenschlichung politischer und sozialer Gegner*innen bis hin zur Entzivilisierung von Diskursen (Beispiel: Infragestellung der Menschenrechte). Zentrales Ziel: Auseinanderdividieren zur Wähler*innenmaximierung. Nebenschauplätze, teilweise bis dahin nicht einmal kontroversielle Themen werden aufgegriffen oder gar konstruiert, stark emotionalisiert und andere politische Akteur*innen zur Positionierung aufgefordert. Dadurch ergibt sich ein Kreislauf, von dem Polarisierungsunternehmer*innen profitieren.

Die Autoren von „Triggerpunkte“ kommen zum Schluss, dass nicht die Gesellschaft sich als Gesamtes spaltet, sondern von lauten und übersteuerten Mobilisierungsformen Botschaften, Emotionen und Diskussionen in die (Teil)öffentlichkeiten geschickt werden. Die Gefahr dabei: „Die sogenannte false polarization – gemeint ist die allgemeine Wahrnehmung einer gespaltenen Gesellschaft – verleitet unter Umständen selbst dazu, sich der einen oder der anderen Seite zuzuordnen, und erzeugt so erst die Gesellschaft, die man irrtümlich zu beobachten glaubt. (Mau, Lux, Westheuser: Triggerpunkte. S. 429-433)

Was tun?

Die Frage, die am Ende einer Analyse gern gestellt wird: Was kann ich tun, um nicht in die Fallen der Polarisierungsunternehmer*innen zu tappen? Es ist wie immer sehr kompliziert. Aber ein paar Möglichkeiten gibt’s:

  • Den Polarisierenden nicht auf den Leim gehen. Sie leben von aufgeheizten (Schein)Debatten. Je klarer wir über die tatsächlichen gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse Bescheid wissen, desto weniger sind wir gefährdet, uns über Lastenräder, gendergerechte Sprache oder Klimaaktivist*innen aufzuregen. Also: transportieren wir ihre Botschaften aus einer eigenen Emotionalisierung heraus weiter, machen wir ihre Arbeit.
  • Behalten wir die Arenen im Auge. Bei allen politischen Botschafen, die so tagtäglich auf uns einprasseln, hilft das Schema der Arenen, das ihr weiter oben findet. Dadurch lassen sich Konflikte einordnen. Und allein das drüber Nachdenken hilft schon, den Zornesrauch etwas verfliegen zu lassen.
  • Bildet Banden. Polarisierungsunternehmer*innen haben auch deswegen so leichtes Spiel, weil wir in einer zunehmend entpolitisierten, von individuellen Kämpfen geprägten Umgebung versuchen, uns irgendwie durchzuwursteln. Versucht auch im Kleinen, Allierte zu finden. Natürlich immer nur so weit, wie ihr könnt und es eure eigenen Ressourcen hergeben. Man muss auch nicht immer in allem übereinstimmen. Doch in sicherer Umgebung lässt es sich mit Menschen, denen ihr grundsätzlich vertraut, auch über so manches Thema trefflich streiten. Natürlich respektvoll.
  • Tempo rausnehmen. Auf Social Media kommen wir manchmal in die Situation, in einen Diskussionsstrudel gezogen zu werden, wo wir selber schnell merken: Puh, das wird mir jetzt zu viel. Ihr müsst nicht immer auf alles antworten. Und schon gar nicht sofort. Bei Trollen ohnehin nicht, die einfach blocken. Aber auch bei anderen Debatten schadet es nicht, sich mal für eine zeitlang rauszunehmen. Gerade, wenn ihr gestresst seid. Und auch im Internet gilt: Wir können jederzeit vom Tisch aufstehen und eine Unterhaltung auch ablehnen, wenn wir grad die Löffel nicht haben dafür. Stichwort Selfcare.
  • Und last but not least: Ihr habt jetzt diesen Text vor euch. Nutzt ihn zum Nachschlagen. Es ist nur ein kleiner Auszug aus dem genannten Buch, lässt natürlich auch einiges außen vor, hilft aber hoffentlich euch so wie mir um bestimmte Dynamiken zu verstehen.

Hier geht’s zum Buch.

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